Ungehaltene Rede zu Abschiebungen

Eklat im Rat der Stadt Göttingen anlässlich der Debatte über Abschiebungen.

12.02.16 –

Die Fraktion der GRÜNEN hat im Rat der Stadt Göttingen am 12.2.2016 gemeinsam mit den Fraktionen der Piraten und Antifa-Linke-Göttingen den folgenden Antrag gestellt, der die Verlängerung der Duldungen für von Abschiebung betroffene Familien zum Ziel hat:

TOP 6

"Duldung für von Abschiebung betroffene Göttinger Familien"  

Der Rat möge beschließen:

Der Oberbürgermeister und die Verwaltung der Stadt Göttingen werden gebeten, im Falle der aktuell von Abschiebung betroffenen Familien und Einzelpersonen, die unter die sog. Altfallregelung fallen, ihre Er-messensspielräume zu nutzen und einen Aufenthalt aus humanitären Gründen auszusprechen.

Im konkreten Fall der Familien K. und O. dem von der Rechtsvertretung der Familien vorgetragenen Vergleichsvorschlag zu folgen und eine für ein Jahr befristete Duldung auszusprechen, notfalls unter Auflagen. Ziel des weiteren Verwaltungshandelns soll es sein, den Familien Zeit zu geben, ihre ernsthaf-ten Integrationsbemühungen nachzuweisen, um ihnen ein dauerhaftes Bleiberecht gewähren zu können.

Ereignisse in der Ratssitzung:

Zu Beginn der Sitzung hat die CDU Nichtbefassung mit Tagesordnungspunkt 6 beantragt. Begründung: Der Oberbürgermeister habe keinen Ermessensspielraum und sei auch gar nicht mehr zuständig. Die SPD stimmte diesem Antrag zu (bei einer Enthaltung von Tom Wedrins) - ohne jede Ankündigung und zunächst auch ohne jede Begründung. Damit war der Antrag auf Nichtbefassung mehrheitlich angenommen. Der Saal wurde daraufhin vorübergehend von aufgebrachten Gästen lautstark besetzt Die Sitzung wurde unterbrochen und mehrere Fraktionen verließen aus unterschiedlichen Gründen den Saal. Die GRÜNEN blieben im Saal auch aus Solidarität mit den Betroffenen.

Nachfolgend möchten wir die vorbereitete Rede der Fraktion der GRÜNEN veröffentlichen, da sie auf Grund der Nichtbefassung nicht gehalten werden konnte:

 

Ungehaltene Rede von Mehmet Tugcu, integrationspolitischer Sprecher der Fraktion:

„Duldung für von Abschiebung betroffene Familien"

 

Anrede,

vieles konnten Sie bereits der Presse entnehmen. Den konkreten Anlass dieser Diskussion möchte ich trotzdem noch einmal darstellen.

Ausgangspunkt ist die Entscheidung der Bundesregierung, Kosovo zum sicheren Herkunftsland zu erklären - eine Entscheidung, die nicht nur von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wurde. In Folge dieser Gesetzesverschärfung erhalten viele der betroffenen Einzelpersonen und Familien nun statt einer Verlängerung ihrer Duldungen die Ankündigung einer Abschiebung.

Wie Sie der Zeitung entnehmen konnten, blieb ein solcher Abschiebungsversuch in Göttingen vor wenigen Tagen erfolglos. Formaljuristisch sind die betroffenen Personen nicht in die Illegalität abgetaucht, sondern sie waren schlicht nicht zu Hause. Ihre Residenzpflicht bezieht sich nicht auf die Wohnung, sondern auf den Landkreis.

Genau um diese Familien geht es: Zwei Familien mit insgesamt vier Erwachsenen, die vor 17 Jahren mit einem einjährigen Kind als Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kamen. Heute gehören zu diesen Familien insgesamt 13 Kinder von denen 12 in Deutschland geboren wurden.

Wie ist die Rechtslage? Rettende Hintertür könnte eine so genannte Altfallregelung sein. Sie gilt für Einzelpersonen, die mindestens acht Jahre, und für Familien mit Kindern, die mindestens sechs Jahre mit ununterbrochener Duldung in Deutschland leben. Allerdings kann die Stadt auch nach diesen sechs Jahren eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis verweigern, wenn sie keine ausreichenden Integrationsbemühungen erkennen kann. Genau darüber wird zwischen der Stadt und den Anwälten der Familie gestritten.

Die Expertise unserer GRÜNEN Fraktion reicht nicht aus, diese Frage juristisch zu klären. Ich möchte trotzdem zitieren, was in dem zu Grunde liegenden Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums formuliert ist. Auf Seite 7 heißt es wörtlich:

„Bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG (Aufenthalt aus humanitären Gründen) sind mögliche Ermessensspielräume des Gesetzes unter Beachtung humanitärer Aspekte zugunsten der Betroffenen auszuschöpfen. Unerlässlich ist die Beachtung der individuellen Umstände des konkreten Einzelfalls. Schematische Bewertungen verbieten sich.“

Anrede,

Das wichtigste Argument, das aus unserer Sicht gegen derartige Abschiebung spricht ist das Kindeswohl. Keines der 13 Kinder hat das Kosovo jemals erlebt, fast alle wurden hier geboren. Sie sprechen die deutsche Sprache, gehen hier zur Schule, haben hier ihre Freunde und kennen sich in Deutschland aus. Mit dem Kosovo haben sie nichts zu tun. Was sollen sie dort?

Auch kann sich kein Kind seine Eltern aussuchen. Die minderjährigen Kinder werden seit Jahren systematisch in Sippenhaft genommen für das Verhalten und möglicherweise Fehlverhalten ihrer Eltern. Ständig müssen sie sich vorhalten lassen, was ihre Eltern tun oder nicht tun. Und was muss das für ein Druck für Kinder sein, wenn der Aufenthalt der ganzen Familie über viele Jahre auch davon abhängt, ob sie in Mathe oder Deutsch eine drei oder eine fünf mit nach Hause bringen?

Deshalb muss die Bedingtheit dieser Aufenthaltserstattung und die haarspalterische Fragerei nach Schulnoten der Kinder als Beleg für Integrationserfolge nach 17 Jahren endlich ein Ende haben. Wer die Familien in den vergangenen Tagen erlebt hat, kann erahnen, was es heißt, in einer Familie aufzuwachsen, in der die Eltern keine Sicherheit geben können, weil sie selber in Unsicherheit leben.

Wir hatten den Antrag bereits abgegeben, als eine weitere Abschiebung angekündigt wurde. Diesmal für eine alleinerziehende Mutter, die seit 24 Jahren in Deutschland lebt. Auch in diesem Fall sind vier Kinder betroffen. Auch diese Kinder sind in Deutschland geboren.

Drei Familien mit insgesamt 22 Betroffenen alleine in Göttingen. Es geht hier nicht um Einzelfälle! Die Familien stehen stellvertretend für viele andere bundesweit! Eigentlich wäre es nötig, vor dem Bundesverfassungsgericht und notfalls vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klärung herbeizuführen. Es müsste geklärt werden, ob das Kindeswohl im Gesetz ein angemessenes Gewicht hat, denn das bezweifeln wir sehr! Und es müsste geklärt werden, ob Abschiebungen nach 17 oder 24 Jahren überhaupt noch mit grundlegenden Menschenrechten zu vereinbaren sind.

Genau an dieser Stelle kommt dieser Antrag ins Spiel, den wir heute stellen. Wir fordern die Abschiebung auszusetzen, um den Betroffenen Zeit zu geben, ihre Integrationsbemühungen nachzuweisen und nötigenfalls das Hauptverfahren zu führen, in dem sie bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen können.

Der Oberbürgermeister hat selber eingeräumt, dass in diesem Fall bestimmte Fragen eigentlich in höherer Instanz entschieden werden müssten. Wer anders als er selber könnte eine Entscheidung treffen, die überhaupt erst den Raum öffnet für diese notwendige öffentliche Diskussion und für die notwendige Korrektur der bestehenden gesetzlichen Vorgaben?

Der Zeitpunkt ist günstig. Denn in Berlin wird über das Asylpaket 2 verhandelt. Für jeden Menschen mit dem Herz am rechten Fleck ist dieses Gesetzespaket eine Zumutung. Tatsache ist aber, dass die Bundesregierung auf die Zustimmung oppositionsregierter Länder angewiesen ist. Dem Protokoll der letzten Innenministerkonferenz ist zu entnehmen, dass mindestens das Land Sachsen-Anhalt auch Nachbesserungen bei der Altfallregelung fordert. Mit anderen Worten: Das Thema ist brandaktuell und von überregionalem gesellschaftlichem Interesse.

Deshalb wünsche ich mir vom Göttinger Oberbürgermeister eine Haltung, die sich nicht in den Dienst der bürokratischen Umsetzung fragwürdiger Gesetze stellt, sondern der Klärung grundsätzlicher Fragen der Menschenrechte die Tür öffnet.  

Ausdrücklich danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Ramaswamy. Die Anregung zu diesem Antrag kam von ihm und ich weiß, dass er sich um die beiden Familien in den vergangenen Tagen sehr bemüht hat. Auch das ist Zivilcourage.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.

 

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